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Berufsunfähigkeitsversicherung

Aktuelle Rechtsprechung

Leitsätze, Details verlinkt:

OLG Stuttgart, Urt. v. 28.07.2022 – 7 U 370/21: Vorvertragliche Anzeigepflicht in der BUV – Beginn der Monatsfrist, umfassende Beantwortung der Gesundheitsfragen, MS als Dauerzustand, Indizien für Kenntnis von Beschwerden als Folgen der MS, „offene“ Gesundheitsfrage; „Beschwerden“ als unklarer Begriff

1. Die Monatsfrist des § 21 Abs. 1 VVG beginnt mit Ablauf desjenigen Tages (§ 187 Abs. 1 BGB), an dem der Versicherer von der Verletzung der Anzeigepflicht eine sichere und zuverlässige Kenntnis erlangt. Das ist gegeben, wenn der Versicherer zuverlässige Kunde davon hat, dass der Versicherungsnehmer ihm bekannte gefahrerhebliche Umstände nicht angegeben hat oder über bekannte Umstände falsche Angaben gemacht hat. Sein Kenntnisstand muss den Versicherer in die Lage versetzen, auf der Grundlage hinreichend sicherer Kenntnis beurteilen zu können, ob er die wirtschaftlichen Risiken eines Rechtsstreits eingehen will.

2. Die beim Antrag auf Abschluss einer BUV gestellte Antragsfrage „Haben Sie derzeit oder hatten Sie in den letzten drei Monaten Beschwerden in einem der unter Nr. 5) a) – i) genannten Bereiche?“ mit Bezugnahme auf Heilbehandlungen u. a. wegen „Psyche, Gehirn, Nervensystem (z.B. Depressionen, Bulimie, Suizidversuch, Multiple Sklerose, Migräne)“ ist keine unzulässige offene Frage.

3. Eine gewisse Abstraktionshöhe bei der Fragestellung ist im Massengeschäft unvermeidlich. Die Unzulässigkeit offener Fragen würde zu einem Detailierungsgrad der Fragebögen führen, der nicht nur unpraktikabel, sondern auch dem Verständnis des Versicherungsnehmers vom Fragenkatalog abträglich wäre. Daher sind offene Fragen, jedenfalls dann, wenn sie wie hier durch Angabe verschiedener Beispiele konkretisiert werden als unbedenklich zu beurteilen.

4. Eine Gesundheitsfrage ist nicht unklar, weil sie „Beschwerden“ abfragt, denn aus der maßgeblichen Sicht eines durchschnittlichen Versicherungsnehmers zielt die Frage nicht auf Krankheiten oder Schäden von erheblichem Gewicht, sondern soll auch Beeinträchtigungen geringerer Intensität erfassen, die sich nicht bereits als Schaden oder Krankheit darstellen. Gemeint ist damit jede Gesundheitsbeeinträchtigung, die nicht offenkundig belanglos ist oder alsbald vergeht.

5. Der zur Angabe von Beschwerden aufgeforderte VN darf seine Antwort weder auf Krankheiten oder Schäden von erheblichem Gewicht beschränken, noch sonst eine wertende Auswahl treffen und vermeintlich weniger gewichtige Gesundheitsbeeinträchtigungen verschweigen. Die Pflicht zur Offenbarung der Gesundheitsbeeinträchtigungen besteht nur dann nicht, wenn diese – wie hier nicht – offenkundig belanglos sind oder alsbald vergehen (BGH, Urteil vom 19.03.2003 – IV ZR 67/02, r+s 2003, 336 juris Rn. 10 mwN). Eine Bewertung der Beschwerden obliegt nur dem Versicherer.

6. Dass der Antragsteller sich nicht krank gefühlt haben mag, ist unerheblich, wenn er den anzeigepflichtigen Umstand kennt (vgl. BGH, Urt. v. 26.10.1994 – IV ZR 151/93, juris Rn. 18).

7. Leidet der Antragsteller bei der Antragstellung an Störungen der Gehfähigkeit (Rennen nicht mehr möglich, Ermüdungserscheinungen im rechten Bein und Schmerzen im Fußgelenk nach 1 bis 2 km Wegstrecke, Schwellungen im Bein bei längerem Gehen) und sowie zeitweisem Kraftverlust und Sensibilitätsstörungen in der rechten Hand und wurde ca. 19 Jahre vor der Antragstellung eine Multiple Sklerose diagnostiziert, ist die Behauptung des Antragstellers, die MS sei ihm aufgrund eines stummen Verlaufs nicht mehr präsent gewesen und er habe die Beschwerden auf einen ca. 21 Jahre vor der Antragstellung erfolgten Sprunggelenksbruch und ca. 17 Jahre zuvor erlittenen Handgelenksbruch zurückgeführt, nicht glaubhaft, wenn folgende Indizien vorliegen:

  • der Antragsteller bezeichnet in seiner Anhörung vor Gericht die MS als beobachtungspflichtig mit dem Potenzial, ihn weiter zu schädigen;
  • der Antragsteller gibt an, die vorhandenen Beschwerden bei der Antragstellung „als nicht so schlimm abgetan“ zu haben, was verdeutlicht, dass er sich mit der Relevanz der Beschwerden in Bezug auf seine Berufsunfähigkeit auseinandergesetzt hat;
  • der Antragsteller äußert dass er die MS deshalb nicht angegeben habe, weil er „nie damit gerechnet [habe], dass die Multiple Sklerose zu einer Berufsunfähigkeit führen würde“, weil er eine solche Bewertung denklogisch nur anstellen konnte, wenn ihm die Erkrankung bewusst war;
  • erstmals in der mündlichen Verhandlung die Bezugnahme auf die Sprunggelenksverletzung erfolgt, während zuvor schriftsätzlich die Ermüdungserscheinungen auf eine „schlechte Konstitution in körperlicher Hinsicht“ zurückgeführt wurden.

 

OLG Koblenz, Beschl. v. 18.07.2022 – 10 U 457/22: Schlechtes Psyche-Gutachten in der Leistungsprüfung: VR darf bei mangelhaftem Gutachten ein zweites Gutachten einholen, keine Fälligkeit i.S.v. § 14 VVG

1. Ist ein vom Versicherer in der Leistungsprüfung eingeholtes medizinisches Gutachten (hier: zu Depression, Angststörung) qualitativ unbrauchbar, ist der Versicherer berechtigt, ein weiteres Gutachten einzuholen und vom VN zu verlangen, dass dieser sich nochmals untersuchen lässt. Es handelt sich dabei (immer noch) um eine notwendige Erhebung im Sinne von § 14 VVG.

2. Das Kriterium für eine erneute Begutachtung in gleicher Fachrichtung ist, ob das erste Gutachten offensichtlich, d. h. in einer für jedermann erkennbaren Art und Weise Fragen offen lässt.

3. Dies liegt vor, wenn eine Sachverständige einerseits bestätigt, dass deutliche Aggravationstendenzen vorlagen (kognitive Leistung entspricht der eines Demenzkranken, ungewöhnlich hohe Anzahl behaupteter Panikattacken in kurzen Zeitabständen) und andererseits eine „Erklärungsmodell“ aufstellt, dass diese objektiv festgestellten Umstände für die Beurteilung der Leistungsfähigkeit keine Rolle spielen und dies auch auf Nachfrage nicht nachvollziehbar erklärt wird.

4. Ein durch Aggravation oder Simulation vorgetäuschter Versicherungsfall kann zur Kündigung des Versicherers nach § 314 BGB führen.

 

OLG Schleswig, Urt. v. 24.3.2022 – 16 U 86/21 : Konkrete Angaben zum Beruf, keine Bildung einer „Durchschnittswoche“, kein „Umrechnen“ von Einzelangaben auf fiktive Werte, mehrere Berufe

1.  Der „Beruf“ im Sinne der Berufsunfähigkeitsversicherung beschränkt sich nicht notwendigerweise auf eine einzelne Berufstätigkeit, sondern kann auch mehrere nebeneinander ausgeübte Tätigkeiten erfassen.

2. Der Beurteilung, ob der Versicherte bedingungsgemäß berufsunfähig geworden ist, ist die zuletzt in gesunden Tagen ausgeübte Tätigkeit so zugrunde zu legen, wie sie sich nicht nur in inhaltlicher, sondern auch in zeitlicher Ausprägung darstellt. Nicht abzustellen ist auf die durchschnittliche Anzahl von Arbeitsstunden bei einer fiktiven 5-Tage-Woche. Maßgebend ist die tatsächlich an einzelnen Wochentagen geleistete Anzahl von Arbeitsstunden, um die Belastung des Versicherten beurteilen zu können.

3. Können die behaupteten beruflichen Tätigkeiten durch eine Zeugenvernehmung nicht vollständig bewiesen werden, sondern bspw. nur in einem zeitlich geringeren Umfang, so ist nur dieser zeitlich geringere Umfang der Tätigkeit bewiesen. Eine Umrechnung dieser Tätigkeit auf Durchschnittszeiten, ausgehend von einer (fiktiven) Arbeitswoche, kommt nicht in Betracht, weil auf ein fiktives Arbeitsbild nicht abgestellt werden darf.

 

OLG Brandenburg, Urt. v. 15.7.2020 – 11 U 91/19: Anerkenntnis, Abgrenzung zur Kulanzentscheidung, Formelle Wirksamkeit der Einstellungsmitteilung; herabgesetzte Anforderungen, wenn der VN wieder voll im früheren Beruf arbeitet

OLG Saarbrücken, Urt. v. 20.5.2020 -5 U 30/19, VersR 2020, 1169 = BeckRS 2020, 12415: Formelle Unwirksamkeit der Einstellungsmitteilung bei falschem beruflichem Ausgangspunkt

OLG Naumburg, Beschl. v. 12.3.2020 – 1 U 120/19: Neue berufliche Tätigkeiten, Darlegungslast bei konkreter Verweisung

OLG Köln, Urt. v. 28.2.2020 – 20 U 19/19, BeckRS 2020, 3549: Intransparenz einer Regelung zur (erstmalig möglichen) konkreten Verweisung im Nachprüfungsverfahren

BGH, Beschl. v. 26.2.2020 – IV ZR 220/19: Umgang mit Privatgutachten zur BU im Gerichtsverfahren

OLG Saarbrücken, Urt. v. 12.2.2020 – 5 U 42/19: Mehrere Berufe, Beweisaufnahme zu beruflichen Tätigkeiten, Abstrakte Verweisung eines Tennislehrers

OLG Brandenburg, Beschl. v. 11.2.2020 – 11 W 10/19 (PKH-Verfahren): Darlegungslast Beschwerden, faktische Berufsfortführung als Indiz gegen BU, AU ist nicht BU, Erfordernis einer ununterbrochenen BU

OLG Nürnberg, Beschl. v. 6.2.2020 – 8 U 490/19: Formelle Wirksamkeit: Grad der BU erforderlich? Relevanter Zeitpunkt der Vergleichsbetrachtung bei Prozessvergleich im früheren Nachprüfungsverfahren; Gutachten nach Aktenlage im Nachprüfungsprozess; Altklausel Schonfrist


Gewerbliches Mietrecht